Foto: Kirchengemeinde Andreaskirche
Messe in Halle 14
An Heiligabend ein richtiges Gemeindefest mit Familien, Alleinstehenden und Obdachlosen – mit Weihnachtsbaum, Liedern und richtigen Geschenken? Das gibt es wirklich. Die Andreaskirche in Leipzig feiert so, ganz gemütlich und auf einem alten Ausstellungsgelände

Aus 91 Metern Höhe, von der Aussichtsplattform auf der Spitze von Leipzigs berühmtem Völkerschlachtdenkmal, ist das 600 Meter entfernte alte Messege­lände der Stadt gut zu überblicken: marode, teils leer­stehende Betonhallen, einige bereits abgerissen, andere an Getränkemärkte vermietet, demnächst kommt ein Möbelgigant dazu. Auch Halle 14, Puschstraße 9, ist DDR-Architektur vom Feinsten, eine graue Messehalle. Willkommen im „Pavillon der Hoffnung“!

Der Name könnte ein bitterer Witz sein, seit die Immobilien- und Büroraumblase auch im zwischenzeitlich bundesdeutsch gewordenen Leipzig platzte und alte Firmengebäude plötzlich für Spottpreise feilgeboten wurden. Ist aber kein Witz. In Halle 14 residiert die evangelische Andreaskirchgemeinde, und wer sich fragt, was deren 2000 Seelen mit einer Halle von annähernd tausend Quadratmetern Größe anstellen, sollte am Sonntagmorgen um halb zehn kommen. Dann drängen 200, manchmal 300 Be­sucher herein. Früher, im Gemeindehaus im Leipziger Szenestadtteil Südvorstadt, ließen sich vielleicht 80 blicken.

An der Attraktivität des neuen Standorts kann’s nicht liegen, dass der Zuspruch so gewachsen ist. Die Straßenbahnanbindung ist schlecht. Die Gemeinde hat ihre liebe Not, der robust be­tonierten Halle optisch eine irgendwie kirchliche Anmutung zu verleihen: Sie versuchen es mit großen Bildern, Bannern, Tüchern und einem schlichten Holzkreuz auf der Bühne neben Flügel und Schlagzeug.

 

Thomas Piehler

Der Weg zu Pfarrer Piehlers Büro im dritten Stock führt durch finstere, hallig-kühle Flure, vorbei am einst internationales Flair simulierenden Funktionärsbesprechungsraum „Hannover“ in ein geräumiges Zimmer, dessen Holzstühle um den Konferenztisch auch gut als historische Filmrequisiten dienen könnten.

Kaum zu glauben, dass die Kirchgemeinde 2006 den Komplex kurzerhand kaufte, als der Zeitpunkt günstig war. Grundstückspreis 750 000 Euro. Die Halle gab’s sozusagen gratis dazu, erzählt Thomas Piehler und grinst in seinen roten Vollbart. Nicht, dass Geld im Überfluss da wäre. Aber bekümmert wirkt der 48-Jährige auch nicht gerade. Er lehnt sich zurück und befindet gelassen: „Wo Menschen im Herzen erreicht werden und begeistert sind, ist die Frage des Geldes nicht das Problem.“ Die Büro­räume sind außerdem größtenteils untervermietet und helfen bei der Refinanzierung.

Heiligabend 2011: Geschenke unterm Baum und 480 Entenkeulen auf den Tischen. Foto: Kirchengemeinde Andreasberg

Die Andreaskirchgemeinde ist nach allen kirchlichen Struktur­reformen als Einzige in der Stadt selbstständig geblieben, ohne ­fusionieren zu müssen. „Es wird immer von Gesundschrumpfen geredet“, sagt Thomas Piehler und zieht die Augenbrauen leicht hoch. „Ich habe aber noch nie etwas gesehen, was gesund war und geschrumpft ist.“
Eine seiner besten Ideen hatte Thomas Piehler 1998: Er wollte eine Weihnachtsfeier für arme Menschen veranstalten – ein umstrittenes Vorhaben. Denn es sollte kein Kaffeenachmittag ­werden, nach dem alle Aktiven schnellstmöglich nach Hause in den Schoß ihrer Familien eilen. Auch kein andächtiges Zusammensein am ersten oder zweiten Weihnachtstag, nein: eine richtige Feier, wie man sie sich selbst wünscht. Mit einem ordentlichen Fest­essen statt der notorischen Obdachlosensuppe, mit persönlichen Geschenken für alle und vor allem: an Heiligabend.

Ein Gemeindefest für alle, am 24. Dezember um 20 Uhr? Das machte bis dahin höchstens die Heilsarmee. Trotzdem fanden sich genug Helferinnen und Helfer, die riesige Fleischkäse-Laibe in den heimischen Herd schoben und ihren privaten Heiligabend opferten. Per Kleintransporter wurde der eine oder andere Obdachlose, der noch nichts von der Einladung gehört hatte, freundlich von der Straße weg eingesammelt.

Werner Meischner

erinnert sich genau: An Heiligabend vor 13 Jahren bekam seine Frau eine neue Niere, und er hatte sich darauf eingestellt, allein zu Hause zu sitzen. Stattdessen feierte er in der Gemeinde mit Obdachlosen und dem, was manche in unverhüllter Verachtung den sozialen Bodensatz nennen. Noch heute freut er sich: „Die saßen am Tisch und heulten vor Freude.“

Inzwischen ist Meischner 62 Jahre alt, die Haare auf dem Kopf sind spärlich geworden, und im Alltag braucht er eine Brille. Aber in seinem Job als Kirchner – andere sagen Küster – wird er wohl noch etwas über die Rentengrenze hinaus bleiben. An diesem Samstagmorgen sitzt er nach einer Zigarette für einen Moment im Foyer von Halle 14, pardon, vom „Pavillon der Hoffnung“ und lässt keinen Zweifel daran: „Ich kenne keinen Stress. Stress gibt’s nur, wenn ich etwas nicht gern mache.“

Ein Gottesdienst im November mit Thomas Piehler. Foto: Jasmin Zwick

Gerade ist es laut und quirlig, denn im Moment probt drinnen eine vielköpfige Kindergruppe ihren Auftritt am Sonntag­nach­mittag. Erwachsene führen Regie, andere dekorieren die Bühne, Bestuhlung und Akustik werden eingerichtet. Ein großes Kommen und Gehen, alle begrüßen einander mit großem Hallo, und man nimmt es Werner Meischner sofort ab, wenn er begeistert feststellt: „Das ist fantastisch hier.“

Womit er das Gemeinschaftsgefühl im Allgemeinen meint – ebenso die bevorstehende Weihnachtsfeier im Speziellen, die inzwischen den Namen „Weihnachten fürs Volk“ trägt. Jedes Jahr kommen etwa 30 Menschen mehr als im Vorjahr. 2012 wird mit bis zu 400 „Freunden“ gerechnet. So lautet die interne Sprach­regelung: Freunde, nicht Besucher. Auch Arme klinge zu negativ und abwertend, heißt es. Zumal längst nicht nur Obdachlose ­kommen, sondern ganze Familien, die von Hartz IV leben. Und Alleinerziehende, die sich ein richtiges Weihnachtsfest nicht ­leis­ten können.

So wie sich auch der Kreis der ungefähr 35 Helferinnen und Helfer erweitert hat. „Eltern unterstützen uns mit ihren Kindern beim Eindecken und der Essensausgabe. Davon sind auch die ­Kinder begeistert“, hat Meischner beobachtet. Dazu gesellen sich diejenigen, die sonst allein wären. Und junge Leute, die Weihnachten nicht bei Mutti hocken möchten.

Meischner weiß noch gut, wie hilfsbereit seine Freunde aus dem Westen in der ungewissen Zeit nach der Wende waren. ­Erfahrungen wie diese, auch der Zusammenhalt zu DDR-Zeiten haben ihn geprägt. Keine Frage, dass er am 24. Dezember wieder dabei ist. „Meine Frau wollte sich vor zwei Jahren ausklinken und mal in Ruhe zu Hause Weihnachten feiern. Da habe ich gesagt: ‚Du, das ist nicht mein Ding. Mich zieht es dorthin.‘ Und sie hat gesagt: ‚Mich eigentlich auch.‘“ Werner Meischner lacht sein lautes Lachen.

 

André Endter

Es kommt gar nicht so selten vor, dass aus einem Heilig­abendgast ein späterer Mitarbeiter wird. Auch André Endter – hager, Kapuzenpullover, beigefarbene Jeans, Sportschuhe – ist in seine Rolle erst nach und nach hineingewachsen. Damals arbeitslos, kam er 2006 als ehrenamtlicher Helfer zur Andreaskirchgemeinde. Das Leben hat den 42-Jährigen nicht mit einem Wohlstandsbauch ausgestattet. Nun ist er ausgerechnet fürs Essen zuständig. Er strahlt, wenn er davon erzählt. Seit 2010 kocht er mit einem Kollegen bei „Weihnachten fürs Volk“. Und bei den Geburtstagsfeiern für die Freunde an jedem letzten ­Sonntag des Monats, dann steht er sogar ganz allein in der Küche.

Abendmahlsfeier mit Kind. Foto: Jasmin Zwick

Den Rotkohl für Heiligabend 2011 hat er tags zuvor vorbereitet, dann „480 Entenkeulen geschoben“, wie er sagt, und gut 1000 Klöße gerollt. „Etwas mehr, als man sonst gewohnt ist.“ Er kichert. Nach früheren, teuren Erfahrungen mit einem Cateringunter­nehmen wird inzwischen wieder alles frisch gekocht. Erst recht, seit Endter dabei ist: „Bei mir gibt’s nichts aus der Dose!“ Immerhin hat er früher einmal in einer Großküche gejobbt.

 

 

Heidi Bornmann

Alles handgemacht – das ist auch die Devise von Heidi Bornmann, die noch im Büro von Senfkorn e. V. oben im dritten Stock zu tun hat. Bis vor kurzem leitete sie den Verein, der als Spendenanlaufstelle die finanzielle Basis von „Weihnachten fürs Volk“ und zahlreiche andere Aktivitäten in der Gemeinde schafft. Er finanziert auch Pfarrer Piehlers Stelle zu einem Viertel.

Bei „Weihnachten fürs Volk“ war Bornmann, eine 58-Jährige mit bunten Tüchern um den Hals, bislang mit etlichen anderen für die Geschenke zuständig. Denn jeder Anwesende bekommt Heiligabend ein Präsent – in aller Regel etwas Nützliches wie ­dicke Strümpfe, Kaffee oder Duschbad. Und: Alles wird in tagelanger Arbeit selbst verpackt, bevor sämtliche Gaben – sortiert nach Geschlechtern, bei den Kindergeschenken auch nach ungefährem Alter – auf der Bühne präsentiert werden. „Viele be­kommen ja wirklich nur dieses eine Geschenk an Weihnachten“, weiß sie, „und wenn das dann noch liebevoll eingepackt ist, ist das ganz toll.“

Bornmann ist vom Gemeinschaftserlebnis bei der Vorbe­reitung begeistert. Manch verborgenes Talent bei den ehren­amtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern komme hier zur Geltung: „Dann entdeckt man auf einmal: Hey, der hat ja echt was los auf dem Gebiet!“

 

Offizieller Beginn an Heiligabend ist um 20 Uhr.

Die Leute stehen um spätestens halb sieben vor der Tür, ein nervöser Pulk von Menschen wie früher vorm Kaufhaus beim Schlussverkauf. „Die wollen nicht zu spät kommen und gute Plätze haben. Das war 2011 schon heftig“, sagt Heidi Bornmann. „Wir haben zu sechst alle einzeln am Eingang mit Handschlag begrüßt und ihnen einen schönen Abend gewünscht, um die Aufregung ein bisschen herunterzufahren.“ Jeder bekommt ein Kärtchen für das Geschenk, das später überreicht wird, und ein paar persönliche Dinge gesagt.

Innerhalb einer Viertelstunde sind die vielen Menschen in der Halle an den Tischen. Am Abend wird musiziert, gemeinsam gesungen, gespielt und allerlei Programm dargeboten. „Wenn ich heute Abend nicht hier gewesen wäre, hätte ich nur zu Hause gesessen und geweint“ – solche Sätze höre man immer wieder, sagt Heidi Bornmann.

Im Frühjahr gibt es außerdem das Osterfrühstück frühmorgens um sechs Uhr, zu dem anfangs etwas mehr als 100, zuletzt etwa 250 Menschen kamen. Und seit 2008 die monatlichen Freundesgeburtstagsfeiern: Zehn bis 15 Gäste feiern ihren Geburtstag, alle anderen feiern mit, drei Viertel sind Stammpu­blikum.

Nun plant der Pfarrer in einer benachbarten ehemaligen Messehalle einen Indoorspielplatz. Einen, dessen Besuch sich auch ­Eltern leisten können, die wenig oder nichts verdienen. Er soll so­zial gestaffelte Preise haben und sich selbst tragen. Nur für die Anschubfinanzierung von 250 000 Euro wird noch ein enga­gierter Investor gesucht.

 

Thomas Piehler,

der Visionär, sagt selten „ich“ und sehr oft „wir“. Sein Talent für neue Ideen ist ihm bewusst. Aber ohne die anderen, die sich begeistern lassen, gehe nichts. Die „Pfarrerzentrierung“ in den Gemeinden, erst recht in seiner ­eigenen, ist ihm ein Gräuel. Wer neu nach Leipzig kommt, stellt oft fest: In der Andreaskirchgemeinde kann man sich mehr einbringen als anderswo

André Endter kocht an Heiligabend, Nici Sommerfeld ist die neue Spendensammlerin im Verein Senfkorn, Werner Meischner ist Küster und Thomas Piehler Pfarrer. Foto:Jasmin Zwick

In Piehlers Büro am Ende des Flurs entstehen derweil neue Ideen. Im August erst haben er und seine Leute ein einwöchiges „Festival der Hoffnung“ auf die Beine gestellt, 500 Menschen nahmen teil, zelteten in der Stadt, lernten sich in Workshops gegenseitig und ihre Stadt Leipzig besser kennen, nahmen an so­zialen Aktionen teil, feierten Gottesdienste. Sie dankten ­Straßenpolizisten für ihre Arbeit, sangen Kindern im Hospiz vor und strichen Bänke in einer Behindertenwohnstätte bunt an – alles dokumentiert vom Fernsehjournalisten Björn Kowalewsky und bereits am letzten Festivaltag professionell im Internet präsentiert.

Auch hat die Gemeinde auf dem „Markt der Hoffnung“ 1000 gegrillte Bratwürste im Brötchen verschenkt. Ein Passant wollte das partout nicht glauben: „Ihr seid ja verrückt. Wer verschenkt denn Essen?“ Dann ging er weiter. Kam zurück. Aber nicht zum Grill, sondern ins Gebetszelt – und holte sich dann eine Bratwurst. Zwei Obdachlose, die auch beim „Markt der Hoffnung“ waren, wurden kürzlich getauft, haben jetzt eine Wohnung und arbeiten im Projekt mit.

Draußen scheint an diesem Wochenende die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Halle 14 umweht ein milder Herbstwind. Das Völkerschlachtdenkmal, das riesige Monument dort drüben zur Erinnerung an Napoleons schicksalhafte Niederlage mit 120 000 Toten, gilt als eines der größten Denkmäler Europas. Bis zum 200. Jahrestag der Schlacht im Oktober 2013 soll die zehn Jahre ­dauernde Sanierung von Leipzigs Wahrzeichen beendet sein. Die Kosten werden sich Schätzungen zufolge auf etwa 30 Millionen Euro belaufen.

Man könnte sagen: Richtiges Heldentum ist heutzutage auch für weniger Geld zu haben.

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Der Autor des Artikels ist wie benommen von seiner BRD-Sozialisation. Der Artikel ist geprägt durch genau die Art von distanzierter Haltung, die dieses Land in den Köpfen so tief spaltet. In einem christlichen Magazin! Unerträglich! Im Einzelnen: Die an sich gute Idee und deren Umsetzung ortet der Schreiber in Halle 14, Puschstraße 9, als "DDR-Architektur vom Feinsten, eine graue Messehalle" glegen im "im zwischenzeitlich bundesdeutsch gewordenen Leipzig." Klar, was kann man in der "Zone" auch anderes erwarten: alles grau. Architektur? Ach Gottchen. "DDR-Architektur" eben, was soll's der Worte mehr. "Zwischenzeitlich" ist wohl Ordnung eingezogen, weil "bundesdeutsch", aber sich mit dem Gedanken abzufinden, dass "die" nun auch dazu gehören, scheint sich der Schreiber schwer zu tun. Grauenhaft. Aufhören!

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