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»Ich darf alles, aber ich kann fast nichts«

Mängel der westdeutschen Mediziner-Ausbildung / Von cand. med. Thomas Abendroth *
aus DER SPIEGEL 21/1983

Im Herbst dieses Jahres werde ich »approbiert«, durch eine schmucklose Urkunde zum »Arzt bestallt« werden. Dann bin ich, auf Lebenszeit, zur selbständigen Ausübung der gesamten Heilkunde berechtigt: darf Geburtshilfe treiben, amputieren, sterilisieren, Morphium verschreiben oder gleich narkotisieren, darf Arbeitsunfähigkeit feststellen, Zwangseinweisungen in Nervenkliniken veranlassen und Totenscheine ausschreiben.

Ich darf alles - aber ich kann fast nichts.

In den sechs langen Jahren des Medizinstudiums war ich bei einer einzigen Entbindung aktiv dabei. Noch nie habe ich eine Patientin vaginal untersucht. Alles in allem habe ich ein halbes Dutzend kleine Schnittwunden genäht. Wenn Sie heute in der Straßenbahn neben mir umfallen würden, weil Ihr Herz plötzlich stillsteht, ist es fraglich, ob ich Sie über die Runden bringe. Ich hatte nur ein einziges Mal Gelegenheit, Herzmassage zu üben - vor vier Jahren, an einem »Phantom« aus Gummi, Leinen und Plastik.

So wie mir geht es allen meinen Kommilitonen. Die Mediziner-Ausbildung, im letzten Jahrzehnt immer wieder reformiert, ist praxisferner als je zuvor. Es macht keinen Unterschied, ob der Student an einer großen oder kleinen Universität, an einer altberühmten oder gerade neugegründeten, unter einem CSU-Kultus- oder einem SPD-Wissenschaftsminister eingeschrieben ist. Selbst Fleiß oder Faulheit, Engagement oder Desinteresse des Studenten zählen wenig: Zum Schluß werden überall Mediziner auf die Menschheit losgelassen - pro Jahr an die 10 000 -, die man besser nicht Arzt nennen sollte.

Nach sechs Jahren Studium würden wir nicht einmal einem Minimalkatalog von ärztlichen Fähigkeiten genügen, wenn es den gäbe. Theoretisch haben wir einen Wust zusammenhangloser Fakten im Kopf, praktisch-handwerklich sind wir Dilettanten. Was wir menschlich sind, bleibt dem Zufall überlassen.

Garantieren immer mehr Ärzte unserer Qualität wirklich eine bessere Patientenversorgung?

Die Verantwortlichen - voran die zuständigen Minister, ihnen zur Seite eine Legion von Professoren - behaupten das. Mit nimmermüdem Eifer haben sie

das Medizinstudium reformiert. Erst einen rigorosen »Numerus clausus« eingeführt, der Abiturnoten und Geduld, Gebrechen und Glück berücksichtigt. Dann die Studienfächer neu geordnet, wobei Althergebrachtes (zum Beispiel, daß ein Medizinstudent das »Kleine Latinum« haben mußte) holterdiepolter über Bord ging und statt dessen neue Wissenschaftler anmusterten: Soziologen, Psychologen und Informatiker.

Vor allem aber wurden das Studium »praxisnäher« konzipiert und sein Prüfungswesen bundesweit vereinheitlicht. Praxisnähe, das wollte man erreichen durch ein Zurückstutzen der theoretischen ("vorklinischen") Ausbildungszeit, durch »Kleingruppen«-Arbeit am Krankenbett, schließlich durch ein »Praktisches Jahr« ("PJ") am Ende des Studiums. Mit der professoralen Prüfungswillkür sollte es ein für allemal ein Ende haben: Dafür wurde aus USA das »Multiple-choice« (Antwort-Auswahl-) Verfahren importiert. Vom ersten Tag an begleitet dieses Computerverfahren den Medizinstudenten.

Tausende von Multiple-choice-Fragen habe ich in den Jahren des Studiums beantwortet, in der »Ärztlichen Vorprüfung«, im ersten, zweiten und jetzt im dritten Teil der »Ärztlichen Prüfung« und immer wieder trainingshalber zwischendurch. Multiple-choice-Fragen stehen am Ende der einzelnen Kurse, sie werden als Sammelwerke gehandelt, sie sind das Gerüst, an dem sich der Medizinstudent nach oben hangelt.

Es ist ein Aufstieg ohne nennenswertes Risiko. Die folgenden Beispiele beweisen es. Sie stammen alle aus dem Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, der schwersten und umfangreichsten, die wir abzulegen haben. _____« Welche Aussage trifft zu? Ein frischer Herzinfarkt » _____« ist im negativen szintigraphischen Infarktkontrast » _____« darstellbar nach i.v.-Injektion von » _____« (A) 99mTc markierten Erythrozyten (B) 99mTc » _____« markierten Phosphatverbindungen (C) 99mTc markierten » _____« Mikrosphären (D) 201TlCl (E) Keines der angegebenen » _____« Radiopharmaka ist geeignet. » _____« (Richtige Antwort: D) »

Für den »medizinischen Laien« klingt das schrecklich schwer, ein Abrakadabra. Auch die praktizierenden Ärzte müßten wohl gleich die Waffen strecken. Dabei kommt es auf den Sinn der Fachwörter kaum an. Die Vermutung, hier werde anspruchsvolles Wissen abgefragt, ist falsch.

Man muß nur irgendwann einmal das Wort Thallium (abgekürzt Tl) in Zusammenhang mit den Worten Herzinfarkt und Szintigraphie (Lokalisationsuntersuchung mit radioaktiven Stoffen) gehört haben, diese Gedankenassoziation genügt. Man muß nicht wissen, was 99mTc markierte Mikrosphären sind, man muß auch nicht Ablauf der Methode, Notwendigkeit ihres Einsatzes, ihre Risiken, Ergebnisse und Bewertung kennen.

Es genügt, etwas irgendwo mal gehört oder überflogen zu haben, ein bruchstückhaftes Halbwissen reicht aus. Davon allerdings muß man eine uferlose Masse besitzen, denn Quantität entscheidet, nicht etwa Überblick, Sichtung und Ordnung der Fakten. Da die Lösungen schon vorgefertigt sind, muß man nicht einmal in der Lage sein, Wissen zu formulieren.

Zusammenhänge kann das Multiplechoice-System nicht prüfen. Denken ist ebensowenig gefragt wie Leistung. Es gibt keine Noten mehr, es geht nur darum, 60 Prozent der Kreuzchen richtig zu haben.

Wer 40 Prozent Fehler macht, wird auch Arzt. Doch selbst bei den schwierigen Fragen, wie etwa der folgenden, ist es gar nicht so leicht, falsch zu antworten. Es geht wieder ums Herz. _____« Folgende Befunde lassen sich als Vorläufersymptome » _____« von möglichem Kammerflimmern ansehen: » _____« (1) sehr früh einfallende ventrikuläre Extrasystolen » _____« (2) respiratorische Sinusarhythmie (3) polytope » _____« Extrasystolie (4) Extrasystolie in Ketten » _____« (A) nur 3 ist richtig (B) nur 1 und 4 sind richtig » _____« (C) nur 1, 3 und 4 sind richtig (D) nur 2, 3 und 4 sind » _____« richtig (E) 1-4 = alle sind richtig »

Im wirklichen Dasein entscheiden die richtigen Antworten über Leben und Tod des Patienten, denn Herzkammerflimmern ist der Anfang vom Ende.

Beim Multiple-choice kommt auch der dümmste Mediziner zum Kreuz an der richtigen Stelle, dank ganz bescheidener Kenntnisse und gut trainierter Tricks: Lösungsvorschlag (2), soviel weiß jeder Examenskandidat, ist ganz eindeutig falsch. Damit fallen die Lösungen (D) und (E) schon mal weg. Über (4) ist man sich nicht sicher, aber (4) kommt in fast allen Lösungen vor, das kann ein Zeichen für seine Richtigkeit sein. Daß (3) richtig ist, weiß man. Damit fällt (B) weg. Es bleiben noch (A) und (C). (1) klingt gar nicht so unwahrscheinlich, irgendwas hat man da irgendwo im Hinterkopf. Also nehmen wir mal an, (1) und (3) sind richtig. Die Kombination gibt's aber nicht. Also muß (4) auch noch

richtig sein und die Lösung ist (C). Alles klar?

Man braucht etwas Geschick und Kombinationsgabe, wie beim Kreuzworträtsel. Vor allem muß man die Taktik solcher Art der Erkundigung kennen, man muß trainiert sein im Lösen dieses speziellen Fragentyps. Das lernt man durch Übung: Wir arbeiten die alten Fragen aus vergangenen Semestern durch, denn etwa ein Fünftel dieser Aufgaben wiederholt sich erfahrungsgemäß.

Ein Kreuzchen bei einer Frage über Notfallmedizin ist dabei genausoviel wert wie ein Kreuzchen bei der Frage nach der Temperatur eines Heißluftsterilisators. Grundlegendes Wissen wird genauso gewichtet wie entlegenste Details. Es ist deshalb gut möglich, auf elementaren Gebieten völlige Lücken zu haben und trotzdem zu bestehen.

Lebenserfahrung und gesunder Menschenverstand können von Vorteil sein. _____« (1) Bei Suizidhandlungen liegen zwischen dem ersten » _____« Gedanken und der Ausführung einer Suizidhandlung zum Teil » _____« nur wenige Stunden, » _____« weil » _____« (2) Suizidhandlungen stets unmittelbaren Eindruck auf » _____« die Umgebung machen sollen. »

Aussage (1) ist richtig, Aussage (2) ist falsch, die Verknüpfung ist ebenfalls falsch. So weit, so klar. Nur: Kann man auf diese Weise ein so existentielles Problem wie den Selbstmord abhandeln?

Es wird nicht besser, wenn die Prüfungs-Bürokraten komplexe psychische Sachverhalte über den Leisten der Fachworte und Vorurteile spannen. Zwei letzte Beispiele, willkürlich herausgesucht - wie es sich für Multiple-choice gehört -, mögen als Beweis ausreichen. _____« Beispiel eins: Ein 27jähriger Patient berichtet, daß » _____« er, »solange er denken könne« (auf genaueres Befragen: » _____« »seit über 10 Jahren"), an Erröten leide, besonders » _____« gegenüber anziehenden Frauen, was ihn jeweils von » _____« vornherein gehemmt und linkisch mache. Im weiteren » _____« Gespräch ergibt sich, daß er seit vielen Jahren nie mehr » _____« errötete, aber sich dennoch panisch davor fürchtet. » _____« Die genaueste Zuordnung der jetzigen Beschwerden » _____« lautet: » _____« (A) Errötungszwang (B) Konversion von Phantasien, wie » _____« vielleicht: »Ich möchte dich verführen, aber ich schäme » _____« mich dieser verbotenen Wünsche« (C) psychovegetatives » _____« Syndrom (D) Erythrophobie (E) psychogenes Erröten als » _____« Affekt-Äquivalent » _____« (Richtige Antwort: D, Errötungsfurcht) » _____« Und das zweite Beispiel: » _____« Für manifeste Homosexualität gilt: » _____« (1) Es findet sich immer ein direkter Leidensdruck » _____« aufgrund der Homosexualität selbst. » _____« (2) Differenzierte Untersuchungen ermöglichen meist, » _____« körperliche und/oder hormonelle und/oder chromosomale » _____« Anomalien festzustellen. » _____« (3) Bei Homosexuellen finden sich oft sekundäre » _____« depressive Symptome infolge der sozialen Isolierung; vor » _____« allem im Alter. » _____« (A) nur 1 ist richtig (B) nur 2 ist richtig (C) nur 3 » _____« ist richtig (D) nur 1 und 3 sind richtig (E) 1-3 = alle » _____« sind richtig (Richtige Antwort: C) »

In eigens zusammengestellten »Gegenstands-Katalogen« sind alle prüfungsrelevanten Fakten aufgezählt. Will man sie sich aneignen, kann man auf umfangreiche Lehrbücher gleich verzichten. Die Stoffülle (insgesamt mehr als 30 Fächer) läßt sich nur mit Skripten bewältigen. Sie enthalten das erforderliche Wissen - auf das Notdürftigste zusammengestrichen, ohne Bilder, ohne Anschauungsmaterial, oft schlecht und fehlerhaft. Einige Verlage haben sich auf ihre Herausgabe spezialisiert.

Ist es angesichts der Kurzlebigkeit menschlicher Gedächtnisleistung und der unübersehbar gewordenen, sich täglich vermehrenden Fülle wissenschaftlich gesicherter Einzelheiten sinnvoll, Berge von Fakten aufzuhäufen?

Angebrachter wäre es doch wohl, Wert auf Grundsätzliches und Wesentliches zu legen und ansonsten zu lehren, mit welchen Strategien Details und Spezialwissen im Bedarfsfall beschafft werden können, wie man bibliographiert, mit medizinischen Zeitschriften und Publikationen umgeht.

Was für eine Art akademischer Geisteshaltung wird durch das Multiplechoice-Verfahren da über Jahre hinweg regelrecht gezüchtet? Kann jemand, der fähig ist, solche Fragen zu lösen, auch Menschen helfen? Wohin hat der Ansatz, ein möglichst objektivierbares, bundeseinheitliches Prüfungsverfahren zu schaffen, geführt?

Erst mal zu einer Überraschung: Entgegen der allgemeinen Annahme ist die Selektionskraft dieses aufwendigen Verfahrens sehr gering. Die Durchfallquoten schwanken zwischen 24 Prozent im Physikum und vier Prozent im Dritten Abschnitt, doch jede Prüfung kann zweimal wiederholt werden. So kommt, wer Medizin studieren darf, am Ende auch zu einer »Bestallung«. Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt fast 90 Prozent. »Inskribiert ist promoviert«, nannten die alten Doktoren diese Mechanik der medizinischen Studien.

Der Schwachsinn medizinischer Prüfungen könnte das Publikum ganz gleichgültig lassen, wenn trotz der Examensart am Ende Ärzte die Universität verließen.

Die sollten ja nicht nur Papierwissen im Kopf haben ...

Wie wünschen Sie ihn sich denn, den Arzt Ihres Vertrauens? Geldschneider soll er nicht sein. Takt soll er haben, Charakter und Einfühlungsvermögen. Ruhig soll er sein, ausgeglichen, verantwortungsvoll und - gesund. Sein Wissen soll breit und auf dem neuesten Stand sein, und wenn er praktisch-handwerklich etwas an Ihnen tut, soll er es beherrschen. Wie wichtig sind menschliche Qualitäten, und inwieweit sind sie ausbildbar? Muß ein Arzt eine Persönlichkeit sein?

Dieser Aspekt fällt während des Studiums völlig unter den Tisch. Grundsatzprobleme sind nicht gefragt. Bei uns gibt es nur zwei Veranstaltungen, die sich mit elementaren Fragen der Medizin befassen: »Übungen zum Arzt-Patienten-Verhältnis« und ein »Seminar zu Fragen medizinischer Ethik«, angeboten für alle Semester. Teilnehmerzahl bei letzterer Veranstaltung: sechs (an einer Fakultät von 5000 Studenten).

Von den aus den 68er Jahren stammenden Bemühungen, dem Arzt zu mehr gesellschaftlichem Bewußtsein zu verhelfen, seine »soziale Orientierung« zu stärken, ist folgendes geblieben: ein paar trockene Kurse und Vorlesungen, deren Besuch man, wo möglich, vermeidet; eine Medizinische Soziologie, die von blassen Theoretikern, meist Nicht-Ärzten, gelesen wird und die man vergessen kann; und eine Menge Lernstoff auf dem »ökologischen Stoffgebiet« (Hygiene, Arbeits-, Rechts-, Sozialmedizin, Medizinische Statistik und Informationsverarbeitung). Gerade das ökologische Stoffgebiet wird aber von Studenten in der Regel als langweilig empfunden und deshalb vernachlässigt.

Präventivmedizin und Gesundheitserziehung (Disziplin mit Chancen zur Kosteneinsparung im Gesundheitswesen) gehen völlig unter.

Und was ist mit dem gewünschten und verordneten »Praxisbezug«? Weil viele Vorlesungen didaktisch schlecht sind (Hochschuldozenten genießen keinerlei pädagogische Ausbildung) und man oft seine Zeit versitzt, besuchen nur etwa 15 Prozent der Studenten regelmäßig Vorlesungen. Bei den Kursen liegt die Zahl der Pflichtstunden, in denen die Anwesenheit kontrolliert wird, in den klinischen Semestern bei zehn bis 15 pro Woche. Kurse werden in sogenannten Kleingruppen abgehalten, dabei stehen zehn Mann und mehr um ein Bett.

Die Lehrpersonen (oft Assistenzärzte) wechseln meist jede Woche. Darunter leidet die Kontinuität der Ausbildung. Niemand fühlt sich persönlich für das Vorankommen und die Leistungen eines einzelnen Studenten verantwortlich oder verfolgt überhaupt dessen Schicksal. Persönliche Beziehungen zum Lehrpersonal entwickeln sich faktisch nie, die Fakultät ist ein anonymer Massenbetrieb.

Dazu paßt gut, daß die Kleingruppenarbeit vielfach und ganz offiziell in »Trockenkursen« stattfindet. Im Psychosomatik-Kurs, wo wir lernen sollen, wie Leib und Seele aufeinander einwirken, werden keine Patienten vorgestellt, sondern Video-Bänder vorgespielt, schwarzweiße. Auch Frauenheilkunde und Geburtshilfe lernen wir »trocken«.

Ich habe einmal den Bauch einer Schwangeren abgetastet, nie vaginal untersucht. Wenn ein Student nicht zufällig in der Gynäkologie famuliert hat oder Gynäkologie als freies Fach im Praktischen Jahr gewählt hat (und auch tatsächlich bekommen hat, das steht oft in den Sternen), dann weiß er noch nicht einmal, wie er die Nabelschnur abklemmen soll, wenn im Taxi eine Frau ein Kind kriegt. Es kommt vor, daß ein Medizinstudent niemals eine Geburt gesehen hat (außer vielleicht im Fernsehen) und doch Arzt wird.

Die Beispiele für patientenferne Kurse lassen sich beliebig vermehren - sie sind die Regel, nicht die Ausnahme. Im »Urologiekurs« lernt man nicht, wie ein Katheter gelegt wird, der die volle Blase entleert. Der Augenkurs spielte sich im Hörsaal ab, der Dermatologiekurs auch. Bis heute weiß ich nicht, warum die Haut sich rötet oder juckt und mit welchem Namen das jeweilige Leiden etikettiert wird.

Wer Glück hat, der wickelt im Kinderkurs mal ein Baby aus den Windeln (dann weiß er wenigstens, wie es sich anfühlt). Vielleicht haben wir sogar mal eins abgehört. Aber mehr untersucht haben wir bestimmt nicht. Angeguckt aus mehr oder weniger großer Entfernung haben wir eine ganze Reihe.

Mit den Kursen ist es also nicht weit her. Andere Ansätze, uns der Praxis näherzubringen, sind das »Krankenpflegepraktikum« während der vorklinischen Studienzeit, später die »Famulaturen« und zum Studienabschluß ein sogenanntes Praktisches Jahr.

Im Krankenpflegepraktikum leert man im wesentlichen Bettpfannen aus und lernt dabei die »Hierarchie der Handgriffe« und wer im Krankenhaus das letzte Glied der Hackordnung ist.

Während der ganzen klinischen Semester sind die vier Monate Famulatur, die wir in den Ferien ableisten, die einzige Zeit, in der wir richtig mit im ärztlichen Berufsalltag stehen.

Doch es gibt Kollegen, die sich Famulaturen einfach bestätigen lassen, ohne sie abzuleisten. Ob wir nämlich im Gesundheitsamt Däumchen drehen, beim Betriebsarzt Finger verpflastern oder im Krankenhaus einem Arzt am Rockzipfel hängen, die Bestätigung ist stets die gleiche und hat, im Reich des Papiers, denselben Wert.

Früher schloß sich an das Studium eine zweijährige Medizinalassistentenzeit an - als Berufserfahrungszeitraum. Die Approbationsordnung von 1970 brachte statt dessen das Praktische Jahr vor Abschluß des Studiums. Ein Studium der Medizin von sechs Jahren führt jetzt mit Ablegen des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung zur vollen Approbation. Studenten im Praktischen Jahr werden nicht bezahlt.

Bundeseinheitliche Rahmenrichtlinien, die Lehrinhalte und Durchführung dieses Praktischen Jahres betreffend, gibt es nicht. Was wir lernen, hängt von

unserem persönlichen Engagement ab und von der Bereitschaft des Arztes, dem wir zugeteilt sind, unsere Existenz als solche zur Kenntnis zu nehmen und ihr in irgendeiner Form Rechnung zu tragen. Er trägt auch die Verantwortung für die Folgen unseres Handelns. Unser Status ist der von Studenten, wir dürfen genaugenommen nichts selbständig oder gar eigenverantwortlich tun.

Wir sind oft einfach zu viele, treten uns gegenseitig auf die Füße, müssen uns um das Nähen von Platzwunden raufen. (Nebenbei: Statistisch kommen in der Bundesrepublik auf einen Studenten 1,4 Betten in einem akademischen Lehrkrankenhaus, in Frankreich 3,6, in England 5,0.)

Wir dienen zur Entlastung des Stationsbetriebes. Blut abnehmen und Infusionen legen sind Routinetätigkeiten, bei denen Übung sinnvoll ist. Mühsam erhobene Krankengeschichten ("Anamnesen"), die nachher niemand mit uns durchspricht, stundenlanges Hakenhalten, wenn uns niemand den Operationsablauf erklärt, Routine im Ausfüllen von Formularen, im Auftreiben von Röntgenbildern sind Dinge, die uns wenig bringen. Ebenso Visiten, bei denen die Tatsache unserer An- und Abwesenheit keine Veränderung ihres Ablaufs bewirkt, auf unsere Fragen nicht eingegangen wird.

Oft sitzen wir stundenlang einfach herum. Da ist es dann klüger, sich »abzuseilen« und für das dritte Staatsexamen zu lernen.

Wie all die Jahre vorher fehlt das Entscheidende: intensive Unterrichtung am Krankenbett. Laut Approbationsordnung sollte die Einführung des Praktischen Jahres aber genau diesem Ziel dienen.

Wir brauchen erfahrene Kliniker, die am Patientenbett sozusagen laut denken, die verbalisieren, mit welchen Intentionen und Hintergedanken sie ihre Fragen stellen; die Untersuchungsbefunde erläutern und deutlich machen, nach welchem Schema und System ihre Beschäftigung mit dem Patienten erfolgt.

All das kann nur im persönlichen Kontakt mit dem Studenten direkt am Bett gelingen. Ein solcher Unterricht müßte konsequent über längere Zeit hinweg von derselben Person gehalten werden.

Denn die Medizin ist weitgehend eine Erfahrungswissenschaft. Viele Erfahrungen können nur in einer Kette mündlicher Überlieferung direkt am Patientenbett weitergegeben werden. Doch diese wünschenswerte Form des Unterrichts ist extrem selten.

Soll denn jeder wieder ganz von vorn anfangen, die gleichen Fehler machen, auf Kosten der Patienten? Muß Erfahrung die Summe unserer Fehler sein?

Am Ende eines langen Medizinstudiums an einer ehrwürdigen Universität muß ich erkennen, daß ich nicht gelernt habe, meine eigenen innerpsychischen Abläufe kritisch zu erkennen. Ich weiß sehr wenig darüber, welche Wirkungen die »Droge Arzt« auf den Krankheitsverlauf hat und wie man erkennen kann, ob Besserungen auf mein Rollenverhalten, auf eine naturwissenschaftliche Behandlungsweise oder auf spontane Heilungen zurückzuführen sind.

Niemand hat mir die Fähigkeit zu vermitteln gesucht, über naturwissenschaftliche Methoden, Begriffe, Theorien, über das Chaos medizinischer Systematik und Klassifikationen gleichsam hinauszuwachsen und diese Vorstellungen als ein Ganzes zu sehen - von außen -, in ihrer Relativität und historischen Bedingtheit: Medizin zu verstehen als eine Mischung von geistigen Modellen und an der Praxis gewonnenen Erfahrungen, die das Manipulieren einer lebendigen Wirklichkeit möglich machen sollen.

Muß alles so mies bleiben, wie es ist? Werden die Medizinstudenten - durch das Ausbildungssystem weder gefordert noch gefördert - weiter auf irgendwelchen Abstellgleisen verkommen?

So, wie es ist, sollte es nicht bleiben. Schließlich zahlen die kranken Bürger - und das ist potentiell jedermann - die Rechnung.

Dreierlei, glaube ich, muß geändert werden: Erstens gilt es, die übergroße Zahl der Medizinstudenten drastisch zu vermindern - mehr Ärzte bedeuten ja nicht etwa mehr gesunde Patienten; zweitens sollte man das auf Verdummung und Nivellierung ausgerichtete Prüfungssystem lieber heute als morgen abschaffen; drittens wäre dafür zu sorgen, daß der dauernde Dozentenwechsel in Vorlesungen und Kursen unterbleibt: Es ist dieser Kontinuitätsverlust der Ausbildung, dieses Abreißen des Kontakts zwischen Lehrpersonal und Studenten, der jetzt zu einer besonders kritischen Situation geführt hat.

Angesichts der Zustände versinken viele von uns in Resignation, Frust und Zynismus. Und wir haben Ängste, weil wir spüren, daß wir auf das, was auf uns zukommt, nicht genügend vorbereitet sind.

Wollen Sie solche Ärzte?

Thomas Abendroth
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