ZEIT Wissen: Dr. Burton, Millionen Menschen leiden unter psychischen Störungen. Sie sagen, diese Zustände könnten einen tieferen Sinn haben. Wie kommen Sie darauf?

Neel Burton:Psychisch Kranken haftet ein Stigma an , dabei haben ihre Störungen häufig biologische Grundlagen. Außerdem liegen die Symptome, etwa Leid oder der Verlust des Realitätsbezugs, auf einem Kontinuum mit normalen menschlichen Erfahrungen. Ich denke, Angststörungen, Depression oder Persönlichkeitsstörungen könnten aus unserem Bedürfnis entstanden sein, mit unserer Umwelt fertig zu werden und unsere Erfahrungen zu bewältigen. Psychische Störungen können zu Anpassungsvorteilen führen.

ZEIT Wissen: Welche Vorteile sollen das sein?

Burton: Eine Depression etwa kann durch existenzielle Krisen ausgelöst werden und uns zeigen, dass etwas völlig schiefläuft und verändert werden muss. Wer depressiv ist, betrachtet zudem die Welt realistischer und kann Ereignisse besser einordnen, das ist ein Vorteil. Und es gibt Hinweise darauf, dass die Gene, die anfällig für Schizophrenie oder bipolare Störung machen, zugleich Kreativität begünstigen können.

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ZEIT Wissen: Inwiefern?

Burton: Gerade die bipolare Störung tritt in höheren sozioökonomischen Schichten auf, was darauf hindeutet, dass die verantwortlichen Gene zu mehr Leistungen und Erfolg führen. Das hat Vorteile für ganze Populationen: Gruppen mit vielen kreativen Menschen sind sehr wahrscheinlich technisch weit fortgeschritten und kulturell hoch entwickelt, was das Identitätsbewusstsein und den Zusammenhalt stärkt.

ZEIT Wissen: Im Buch beziehen Sie sich auf Künstler wie Ernest Hemingway , der an bipolarer Störung litt. Glauben Sie, dass das Leiden mancher Künstler ihren Erfolg ausmacht?

Burton: Das ist möglich. Man schätzt, dass die bipolare Störung unter Künstlern 10- bis 40-mal häufiger auftritt als in der Normalbevölkerung. Viele Kreative, etwa Virginia Woolf, haben selbst ihr Genie der Krankheit zugeschrieben. In depressiven Phasen können Betroffene in sich gehen, Gefühle und Gedanken sortieren, unwichtige Ideen streichen. In manischen Phasen sammeln sie ihre Visionen, ihr Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen für die kreative Arbeit.

ZEIT Wissen: Ist das nicht eine Romantisierung? Hemingway und Woolf haben sich schließlich umgebracht.

Burton: Es ist sehr wichtig, solche Leiden nicht zu romantisieren – wer krank ist, muss behandelt werden. Ebenso wichtig ist es aber, psychische Krankheiten nicht zu stigmatisieren. Wir sollten sie als das begreifen, was sie sind: ein Ausdruck unserer tiefsten menschlichen Natur.